zu zweit

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Mittwoch, 23. März 2011

„Wovor soll ich noch Angst haben?“

Kämpferische Frau: Susana Trimarco mit Enkeltochter Micaela.

Susana Trimarco sucht seit neun Jahren ihre entführte Tochter in Bordellen  - zum Teil als Puffmutter verkleidet. Durch ihren Kampf gegen den Menschenhandel hat sie in Argentinien vieles bewegt, auch juristisch.

Unendliche Weiten. Staubige Straßen, viele ungeteert. Abgelegene Häuser und Ortschaften, darunter einfache und armselige. Die Fahrt durch die nördliche Provinz Tucumán in Argentinien, etwa 1300 Kilometer von Buenos Aires entfernt, lässt einiges erahnen: mangelhafte Kontrollen, spärliche Staatsstrukturen, zuweilen wildwestähnliche Zustände. Innerhalb eines Jahres verschwanden hier mindestens 700 Mädchen und Frauen. Einige, von einem Tag auf den anderen.

„Susana ist nicht da“, heißt es beim Besuch in der Stiftung María de los Angeles in der Provinzhauptstadt San Miguel de Tucumán. Sie sei früh am Morgen Hals über Kopf abgereist – nach La Rioja, einer anderen Provinz im Nordwesten. Die Gendarmerie hat dort kurzum mit Ausgrabungen begonnen. „Sie suchen nach den Überresten von Marita.“

Marita Verón ist vor rund neun Jahren entführt worden. Sie verließ das Haus ihrer Eltern an einem Morgen früh, um sich beim Gynäkologen eine Spirale einsetzen zu lassen. Die 23-Jährige und ihr Partner hatten entschieden, vorerst keine Kinder mehr zu kriegen. Spätestens zum Mittagessen wollte Marita bei ihren Eltern und ihrem damals dreijährigen Mädchen zurück sein. Sie kam nie wieder.

„Bin gleich wieder da.“ Das seien die letzten Worte gewesen, die sie von ihrer Tochter am 3. April 2002 gehört habe, erzählt Susana Trimarco in ihrer Wohnung in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, wo sie oft Zwischenhalt macht. Trimarco wirkt erschöpft, sie arbeitet unaufhörlich. Sie reist in Argentinien von einem Ort zum anderen, besucht Fernsehprogramme, hält Vorträge über Frauenhandel, trifft sich mit Politikern und: sucht ihre Tochter. Soeben ist sie von La Rioja zurückgekehrt. Die Ausgrabungen sind beendet. „Wir haben nichts gefunden“, sagt die kleine Frau – einerseits erleichtert, andererseits müde.

Der Frauenhandel hat in den vergangenen Jahren in Argentinien an Aktualität gewonnen. Die Medien berichten regelmäßig von vermissten Frauen und von sexuell Ausgebeuteten, die die Polizei befreit hat. Auch die Regierung hat inzwischen eingesehen, dass im Land Menschenhandel im organisierten Stil existiert.

„Als sie um zwei Uhr immer noch nicht auftauchte, wusste ich, etwas ist passiert.“ Ihre Tochter sei immer sehr verlässlich gewesen. „Wir befürchteten einen Autounfall.“ Erst suchten Trimarco und ihr Mann den Gynäkologen auf. Dort war Marita angeblich nie angekommen. Sie fuhren durch die Straßen, klapperten Polizeistellen und Spitäler ab. Nichts. Als sie schließlich eine Vermisstenanzeige aufgeben wollten, weigerte sich der zuständige Polizist: „Machen Sie sich keine Sorgen, die ist mit einem Freund unterwegs.“ Außerdem, so der Polizist lakonisch, habe er ohnehin kein Papier, um die Anzeige aufzunehmen. „Mein Mann ging in den nächsten Laden, kaufte einen Schreibblock“, erinnert sich Trimarco und lacht zum ersten Mal ein wenig. Erst als nahezu 50 Freunde und Familienangehörige das Kommissariat in Beschlag nahmen, setzte sich die Polizei in Bewegung.

Die genaue Zahl der in Argentinien zur Prostitution Gezwungenen ist ein riesiges Fragezeichen. Wenn Anzeigen von verschwundenen Frauen im besten Fall aufgenommen werden, figurieren sie unter „Flucht von zu Hause“ oder „Verschwinden einer Person“. Nach einer Erhebung der Internationalen Organisation für Immigration (IOM) wurden im Jahr 2006 in Argentinien rund 400 Frauen zur Prostitution gezwungen. Eine sehr zweifelhafte Zahl. Wenn man bedenkt, dass die Stiftung María de los Angeles von Susana Trimarco von Oktober 2007 bis Oktober 2008 alleine schon rund 700 Sexsklavinnen registriert hatte  – nur in der Provinz Tucumán.

Hundertmal, wenn nicht tausendmal hat Trimarco die Geschichte bereits erzählt. Sie tut es heute noch, als ob sie erst gestern passiert wäre. „Drei Tage später erhalte ich einen anonymen Anruf“, sagt die 56-Jährige. „Die Person teilt mir mit, sie habe gesehen, wie drei Männer meine Tochter schlugen und in ein Auto eines bekannten Taxiunternehmens von San Miguel de Tucumán zerrten.“ Trimarco vervielfältigte ein Bild ihrer Tochter und tapezierte damit die Stadt. Taxifahrer rissen die Plakate wieder ab. Gemeinsam mit ihrem Mann lief sie den Strich im Rotlichtmilieu auf und ab, suchte nach Hinweisen. Am siebten Tag wurde ihr Mann von einer Prostituierten angesprochen. Sie wisse, was mit Marita geschehen sei, sagte die 13-Jährige. „Man hat sie entführt und für 2500 Pesos (500 Euro) an ein Bordell in La Rioja verkauft.“ Der Prostituierten wurde später der Hals aufgeschlitzt – aus Rache, weil sie geplaudert hatte.

Einmal in den Fängen der Mafia werden die jungen Frauen von Provinz zu Provinz, von Bordell zu Bordell herumgereicht. Bis über die Grenzen Argentiniens hinaus. Nach Chile, Kolumbien oder Spanien. Wie ein Ware. In BH und Unterhose lichten sie die Menschenhändler ab, verschicken die Fotos. Darauf wird am Telefon geboten und gefeilscht. Blonde Frauen kosten mehr. Aus einer Statistik der mexikanischen Regierung 2010 geht hervor, dass in Lateinamerika jährlich 250.000 Personen Opfer von Frauenhandel sind.

Nicht alle werden entführt. Oft wird den jungen Frauen eine gut bezahlte Arbeit als Kindermädchen oder Serviertochter in einer anderen Stadt oder Provinz angeboten. Die Reise ins finanzielle Glück, endet in einem „Freudenhaus“. Sie werden eingesperrt, erhalten einen neuen Namen, eine neue Identität. Vorwiegend im Norden von Argentinien, wo Armut verbreitet ist, rekrutieren Menschenhändler die Mädchen. Diese leben in wenig urbanisierten Gegenden, in dürftigen Häusern, und sind ungebildet. Wieso also Marita?

Marita Verón wuchs in einer Mittelklassfamilie auf. In einer katholischen Schule schloss sie die Grundschule ab. An der Universität studierte sie Kunst, bis 1999 ihr Traum in Erfüllung ging: Tochter Micaela kam zur Welt. Zum Zeitpunkt ihrer Entführung lebte Marita mit ihrem Freund zusammen und führte einen kleinen Lebensmittelladen in San Miguel de Tucumán.

Glückliche Zeiten: Marita Verón (rechts) mit ihrer Mutter Susana Trimarco und Tocher Micaela.

„Ich glaubte es zu Beginn nicht, was die Prostituierte meinem Mann erzählte“, so Trimarco. Es war aber die einzige Spur. Sie nahm also das Taxiunternehmen unter die Lupe. Dabei fand sie heraus, dass seine Besitzer in allerlei dunkle Geschäfte verwickelt sind, darunter in Zuhälterei. Sie reiste in die Stadt La Rioja der gleichnamigen Provinz und quartierte sich in ein Hotel ein. Sie fragte herum, ermittelte. Einwohner bestätigten ihr, man habe Marita gesehen. Sie kleidete sich als Puffmutter und schleuste sich in Bordelle ein. „Schrecklich, was ich da alles gesehen habe...wie sie die Frauen schlagen und ihnen Drogen verabreichen.“

„Mir blieb nichts anderes übrig. Wie könnte ich aufhören nach meiner Tochter zu suchen, während sie gequält, geschlagen und prostituiert wird?“, sagt Trimarco mit dünner Stimme. Sie habe ihre Arbeitsstelle aufgegeben und Häuser, Autos und den Laden von Marita verkauft, um die anfallenden Kosten für die Suche nach ihr zu bezahlen. „In Europa mögen die Menschen an die Polizei und Justiz glauben...hier nicht“, sagt sie achselzuckend.

Trimarco sammelte Zeugenaussagen, Indizien, Beweise und konnte damit schließlich die Richter davon überzeugen, dass Maritas Geschichte sehr wahrscheinlich den Tatsachen entspricht. Ihre Bemühungen führten zu zahlreichen Hausdurchsuchungen in verschiedenen Bordellen. In Argentinien, aber auch in Spanien, wo 2003 in Zusammenarbeit mit Interpol 59 lateinamerikanische Frauen gerettet wurden. Befreite Opfer der Sexsklaverei brachten weiteres Beweismaterial im Fall Verón. Etwa, dass Marita als VIP-Prostituierte gehandelt wurde. Frauen aus besseren sozialen Schichten, studierte, gehören nämlich zum besonderen Angebot im Rotlichtmilieu. Sie sind für Freier bestimmt, die zahlen können. Darunter gehören Richter, Politiker, Geschäftsleute.

Prostitution ist in Argentinien nicht verboten. Aber Bordelle, seit 1939. Dennoch: Es gibt sie an jeder Ecke. Um das Gesetz zu umgehen, werden sie als Bars, so genannte „whiskerías“ eingetragen. Sie tragen Namen wie Insel, Seifenblase oder Streicheleinheit. Sie liegen oft außerhalb von Städten, an trostlosen Landstraßen. Alle wissen es. Auch die Polizei – die nicht selten an der Prostitution kräftig mitverdient. Wird eine Whiskería hops genommen, findet sich unter den Angeklagten häufig ein Polizist. Bis es also überhaupt zu einer Hausdurchsuchung kommt, müssen zahlreiche Hürden übersprungen, korrupte Beamten umgangen werden.

Hat Trimarco nicht Angst um ihr Leben? „Wovor soll ich noch Angst haben“, winkt sie  kraftlos ab. Sie habe nichts mehr zu verlieren. Drohungen erhalte sie dauernd. Zwei Mordanschläge überlebte sie knapp. „Sie wollten mich mit einem Auto überfahren, einmal vor meinem Haus.“

Trimarco konnte die tragische „Reise“ ihrer Tochter zum Teil minutiös rekonstruieren. Bevor sie nach La Rioja verkauft wurde, hielt man sie in einem wohlhabenden Haus nahe der Stadt San Miguel de Tucumán versteckt – nur für eine Nacht – und pumpte sie mit Beruhigungsmittel voll. In La Rioja, kurz bevor die Polizei in einem Großeinsatz das Bordell durchsuchte, ließ man Marita durch eine Hintertür aus dem Freudenhaus verschwinden und verkaufte sie nach Spanien. „Ich war fünf Minuten davor entfernt, meine Tochter zu retten“, sagt sie traurig. Später sei Marita wieder nach Argentinien zurückgebracht worden. Heutzutage ereilt Trimarco vermehrt die Nachricht, dass ihre Tochter tot sei.
Durch ihren unermüdlichen Kampf hat Trimarco ein paar hundert sexuell versklavte Frauen befreit, bis Ende 2010 alleine in Argentinien rund 200. Stets über den juristischen Weg? „Ja, selbstverständlich“, sagt sie beinahe entrüstet. Ein Polizist aus San Miguel de Tucumán wusste anderes zu erzählen: „Susana, ich und meine Pistole, wie oft sind wir drei in Bordelle eingedrungen und haben Frauen befreit!“ Nun erinnert sich auch Trimarco. „Einmal fuhren wir mit zwei Nonnen zu einem Bordell.“ Die Nonnen stiegen aus, klopften an der Eingangstür, entschuldigten sich beim Türsteher, sie müssten da schnell rein, packten drinnen das gesuchte Mädchen an der Hand und verließen – sich freundlich verabschiedend – das Bordell. „Der Mann konnte gar nicht reagieren“, sagt Trimarco auflachend, „der war so baff.“ Mit Vollgas fuhren Trimarco und Co. los, „bevor die Bordellarbeiter mit Pistolen auf uns schießen konnten“.

Die Provinz Tucumán eröffnete 2007 innerhalb der Polizei eine Abteilung, die sich alleine dem Kampf gegen Menschenhandel widmet. Dank Susana Trimarco. Sie hatte es beharrlich vom lokalen Polizeichef gefordert. Darauf wurden auch in anderen Provinzen solche Einheiten aufgebaut. Im Jahr 2008 verabschiedete der argentinische Kongress eine Gesetzesvorlage: Der Menschenhandel ist neu im Strafgesetzbuch als Delikt aufgelistet. Im Verlauf des Jahres 2011 fängt endlich der Prozess gegen 13 Personen statt, die in der Marita-Entführung involviert sein sollen. Eine der Angeklagten ist die berüchtigte Bordellchefin Liliana Medina aus der Provinz La Rioja (siehe Opferbericht weiter unten). Trimarco: „Wir werden etwa 70 Zeugen aufrufen, darunter solche, die Marita gesehen haben.“

Die von Trimarco gegründete Stiftung María de los Angeles wird von Cristina Fernández de Kirchners Regierung finanziell unterstützt. Die Stiftung betreut Opfer und Familienangehörige der ausgebeuteten Frauen und nimmt Vermisstmeldungen entgegen. Die Mitarbeiter bilden außerdem Richter, Staatsanwälte und Polizisten im Kampf gegen den Menschenhandel aus und führen Sensibilisierungskampagnen an Schulen durch. Sie lehren die jungen Mädchen, wie sie sich vor einer Entführung und sexueller Ausbeutung schützen können. In Washington erhielt Trimarco für ihren unermüdlichen Einsatz 2007 die Auszeichnung „Mutige Frauen“, überreicht von der damaligen US-Außenministerin Condoleezza Rice.

Auf dem runden Tisch im Wohnzimmer liegen Fotografien von ihrer Enkeltochter Micaela auf. Sie zeigen sie in einem weißen Kleid während ihrer Erstkommunion. Micaela frage sie oft: „Werde ich meine Mutter wieder sehen?“ Aber ja, bestimmt, antworte Trimarco jeweils.

„Ich werde nicht aufhören nach Marita zu suchen, bis ich sie wieder habe.“ Wenn sie tot sei, wolle sie wissen, wo sie Blumen hinlegen könne. Susana Trimarco versichert: „Einer nach dem anderen, alle werden sie dafür bezahlen, was sie meiner Tochter Marita angetan haben.“
(Camilla Landbø)

Stiftung: http://www.fundacionmariadelosangeles.org/


"Sie schoss mir ins Bein"


Andrea Darrosa wurde acht Jahre zur Prostitution gezwungen. Sie ist aus Misiones. Heute lebt sie frei  – mit Angst – in einer anderen Provinz Argentiniens, die nicht genannt  werden soll. Sie ist eine der Hauptzeugen im Fall „Marita Verón“. Ein Opferbericht.

Ich ging Brot einkaufen, an einem Nachmittag. Ich war auf dem Weg nach Hause, als mir von hinten jemand auf den Kopf schlug. Als ich erwachte, befand ich mich in einem Raum mit Rotlicht. Ich wurde einer Frau, Liliana Medina, vorgestellt. Sie sagte zu mir: „Geh in den anderen Raum, gleich ziehen wir dich um, damit du arbeiten kannst.“ Ich verstand nichts und fragte: „Was für eine Arbeit?“ „Wenn du es nicht auf dem guten Weg verstehst, wirst du es auf dem schlechten tun. Hier erklären wir dir die Dinge nur einmal.“
Schon am ersten Tag schlugen sie mich. Immer schlugen sie mich, wenn ich weinte und nicht arbeiten wollte. Sie schminkten und kleideten mich. Kurzes Röckchen und Stöckelschuhe. Ich wollte aber zurück nach Hause, zu meiner drei Monate alten Tochter, der ich immer noch die Brust gab. Ich weinte, mir wurde schwindlig, ich verlor zweimal das Bewusstsein. Ich war so traurig. Sie zogen mich an den Haaren aus dem Raum ins Bordell und drohten mir, mich umzubringen, wenn ich nicht anschaffte. Sie stellten mich einfach vor einen Freier. Ich war 15 Jahre alt.

Die Bordellchefin Liliana Medina war eine dicke, sehr böse Frau. Gewalttätig. Ich hatte absolut keine Freiheit. War eingesperrt auf ihrem Privatgut. Sie beschaffte mir einen gefälschten Identitätsausweis. Sie änderte meinen Namen. Alle Daten. Ich figurierte als ihre Tochter, Janina Medina. Ich musste sie Mammi nennen. Kaum kam ich in der Provinz La Rioja an, bleichten sie mir die Haare. Und verpassten mir blaue Kontaktlinsen. Ich durfte nirgendwohin gehen, nicht einmal zum Kiosk. Selbstverständlich wäre ich abgehauen. Wenn sie tagsüber fortging, schloss sie mich ein. Aufs Dach kam ich nicht, sie hatte einen elektrischen Zaun gezogen. Medina drohte mir dauernd mit dem Tod.

An einem Tag tauchte Medina mit einem Pülverchen auf. „Zieh es in die Nase ein“, sagte sie. „Das ist ein Medikament, damit du die ganze Nacht wach bleibst und arbeitest.“ Später begriff ich, dass das Kokain war. Von da an schnupfte ich mehrere Tage die Woche Kokain und trank Alkohol.

Acht Jahre lang war ich eingeschlossen. Ohne die Sonne und den Mond zu sehen. Von Medinas Haus aus fuhr man mich jeden Abend zu den Bordellen hin und holte mich später wieder ab. In der Nacht arbeitete ich als Prostituierte und am Tag putzte ich das Haus von Medina.

Einmal vertraute ich einem Freier. Ich redete über meine Lage und hoffte, dass er mir helfen könne. Es war ein Polizist. Er verriet mich aber. Im Grunde genommen hatte ihn Medina beauftragt, mich auszuhorchen, um zu schauen, ob ich reden würde. Sie zahlte ihn. Ich erzählte ihm also, dass ich entführt worden war, dass ich von Misiones bin, dass ich eine Tochter habe. Darauf erzählte er alles der Bordellbesitzerin. Sie brachte mich fast um. Von da an sagte ich den Freiern nur noch, ich sei von La Rioja. Ich hatte viel zu sehr Angst. Ich vergaß aber meine Familie nie. Niemals.

Immer wenn die Polizei eine Hausdurchsuchung durchführte, ließ mich die Puffmutter aus dem Bordell verschwinden. Ich war ja Minderjährig. Ich arbeitete von zehn Uhr abends bis am nächsten Tag um drei Uhr nachmittags. Jeden Tag. Ich machte pro Monat etwa 25.000 Pesos (5000 Euro). Das ganze Geld ging an Medina. Ich sah nie einen Peso. Ich schlief pro Abend mit zehn bis zwölf Männern.

Medinas Haus war die Hölle. Der Terror. Wenn die Mädchen schwanger wurden, führte Medina selber die Abtreibung durch. Sie fesselte die Mädchen ans Bett, gab ihnen eine Pille, damit sie einschliefen, und holte den Fötus heraus. An einem Tag bat ich erneut darum, dass sie mich nach Hause gehen lässt. Medina sagte zu mir: „Nur tot.“ Ich drehte durch und warf eine Tasse mit heißem Tee nach ihr. Ich rannte. Plötzlich hörte ich einen Schuss. Sie hatte mir ins Bein geschossen. Immer lief sie mit ihrer 38er im Gürtel herum. Zu einem Arzt brachten sie mich nie. Mir wurde die Wunde aufgeschnitten und die Kugel mit einer Wollnadel herausgeholt. Auch brach mir Medina eine Rippe. Ich lag zwei Wochen im Bett. Damals starb ich beinahe.

Andere Mädchen starben. Eine Brasilianerin wollte Geld, um nach Hause fahren zu können. Das Mädchen drohte mit der Polizei. Medina zog sie an den Haaren, drückte sie aufs Bett und schoss ihr in den Kopf. Dann packte sie mich und drohte mir, wenn ich jemandem etwas davon erzähle, würde sie mich ebenfalls umbringen. Später sah ich sie mit einem schwarzen Abfallssack und Schaufel durch den Raum gehen.

Ich habe Marita Verón gesehen. Aber nur einmal, an einem einzigen Tag. Medina stellte mir sie vor. Sie sei von Tucumán, ihr Ehemann habe sie hergebracht. Und dann sah ich sie nie wieder. Aber zu einem späteren Zeitpunkt, als ich mit Medina im Bett lag, denn sie zwang mich auch Dinge mit ihr zu tun, sahen wir im Fernsehen Susana Trimarco. Medina sagte bös lachend: „Wie dumm die ist, die Marita ist schon lange in Spanien.“ Ich schloss daraus, dass sie Marita Verón verkauft hatten.

Sechs Uhr früh war es. In einem Bordell. Es hatte kaum Kunden. Die Kellner, die mich normalerweise kontrollierten, schliefen und schnarchten. Ein Taxi kam, um einen Freier ins Stadtzentrum zu fahren. Ich nutzte die Gelegenheit. Ich stieg ins Taxi. Ich wusste, Medina wird mich suchen. Also reiste ich per Autostopp weiter, bis zu einem Dorf 200 Kilometer von La Rioja entfernt. Da ich kein Geld besaß, fing ich in einem anderen Bordell an zu arbeiten. Ich wollte hier die Fahrkarte nach Misiones anschaffen. Nach fünf Monaten führte die Polizei eine Hausdurchsuchungen durch. Susana Trimarco hatte sie eingeleitet. Das war im Jahr 2004. Man stieß auf mich. Ich sagte aus. Sie halfen mir, zu meiner Familie zurückzukehren. In den Bergen von Misiones hielt ich mich lange versteckt. Medina ist nämlich wieder frei. Sie hat Kaution gezahlt. Ich habe Angst. (cal)



1 Kommentar:

  1. Eine bewundernwerte Mutter, die so um ihr Tochter kämpft. Wie traurig- sie und all die Töchter, die zur Prostitution gezwungen werden.

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