zu zweit

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Sonntag, 21. Februar 2016

Vielleicht bin ich ein wenig Anarchist



Als Guerillaführer verbrachte er 14 Jahre in Gefangenschaft. Die letzten davon alleine in einem Erdloch. 2010 wählten in die Uruguayer zum Präsidenten. José Mujica – genannt Pepe -  ist international zur Polit-Kultfigur mutiert. Weil er anders ist. Zum letzten Interview vor Ende seiner Präsidentschaft empfing der frühere Blumenzüchter in Jogginghose und Baseball-Kappe bei sich zu Hause außerhalb von Montevideo.






Interview: Camilla Landbø (aufgezeichnet im Februar 2015)


Erst zur Förmlichkeit: Wie soll ich Sie nennen, Herr Präsident oder…?
José Mujica: Pepe!

Pepe... was ist mit Ihrer Nase passiert?
Gestern habe ich mich hier auf dem Land mit einer Zange verletzt, als ich versuchte einen Draht zu biegen (lacht).

Als Präsident?
Ich bin der Präsident der Republik, ja! Aber gestern fuhr ich mit einem Traktor herum und schaufelte Erde von hier nach dort. Kehrte dann schmutzig nach Hause, nahm ein Bad und putzte die blutende Nase. Das ist menschliche Freiheit, dass man gelegentlich das tun kann, was einen glücklich macht.

Seit etwa 30 Jahren leben Sie hier, auf Ihrem einfachen Gut. Sie haben sich geweigert, in den Präsidentenpalast von Montevideo zu ziehen.
Ich lebe nicht auf dem Land, weil ich ein Exzentriker bin. Sondern weil ich die Natur über alles liebe. Ich kann nicht anders.

Pepe, in den 70er-Jahren kämpften Sie für politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Sofortige und definitive Veränderungen. Sie waren Mitbegründer der Stadtguerilla Tupamaros.
Wir wollten eine perfekte Welt. Ja. Dann aber litten wir ziemlich. Aus Mangel an Geschwindigkeit. Weil sie uns festnahmen (lacht). Und so begannen wir den Wert des Lebens neu zu definieren. Es macht Sinn, darum zu kämpfen, dass Menschen mehr zu Essen, ein Dach über dem Kopf, mehr Gesundheit und bessere Bildung haben. Damit ihr Aufenthalt auf dem Planet möglichst angenehm ist. Nichts ist schöner als das Leben. Das ist es, was wir in jenen Jahren gelernt haben: Das wichtigste ist das Leben, gleich darauf kommt die Gesellschaft. Der Mensch ist ein Herdentier, er braucht die Gemeinschaft. Er ist anthropologisch gesehen Sozialist.

Ideen, Kampf, Gefangenschaft... viel Erlebtes. Jahre danach werden Sie zum Präsidenten gewählt, stehen einem linken Bündnis – dem Frente Amplio – vor. Wie geht man mit dieser Verantwortung um?
Dieses Erlebte ist der Grund, wieso wir nun bedächtig vorwärts gehen. Aber mit Beharrlichkeit. Wir verhandeln so gut es geht, mit der Absicht, dass die Gesellschaft ein bisschen gerechter wird. Wir versuchen Veränderungen herbeizuführen, die relativ, langsam und nicht definitiv sind. Denn das einzig Definitive ist der Tod.

Man könnte also sagen, dass Sie die Ideen von damals an die Realität adaptiert haben?
Man adaptiert sich nie an die Realität – sie ist zu komplex.

Während Ihrer fünfjährigen Amtszeit wurden die Homo-Ehe, die Abtreibung, das Recht auf Geschlechtsidentität eingeführt. Sie haben Arbeitslosigkeit, Armut und Kindersterblichkeit gesenkt. Um ein paar Sachen zu nennen.
Ja. Die Linke scheint heute zu glauben, dass sie den Kampf um die Macht mit einer sozialen Agenda ersetzen kann: Homo-Ehe, Abtreibung, Antirassismus, Feminismus... Das ist alles sehr gut. Ich unterstütze das natürlich. Aber der Schwarze, der wirklich beschissen dran ist, das ist der Schwarze in Armut. Die Frau, die am meisten diskriminiert und gedemütigt wird, das ist die Frau in Armut. Dasselbe gilt für die Indigenas. Unser großes Problem also sind die Klassenunterschiede. Soll mir niemand etwas anderes weismachen wollen! Kurzum: Man muss um die Macht kämpfen, um dann strukturelle Veränderungen herbeizuführen.

Man nennt Sie oft „den ärmsten Präsidenten“.
Wegen meiner Art zu leben: bescheiden und mit wenig Gepäck. Und das ganz bewusst. Das ist meine Wahl. Wofür? Um Freizeit zu haben. Denn wenn ich Geld anhäufen würde, müsste ich dauernd aufpassen, dass man mich nicht belästigt oder bestiehlt. Ich würde meine Zeit verschwenden. Und was man im Supermarkt nicht kaufen kann, das ist Zeit. Jemand anderes mag daran Freude haben, Geld anzuhäufen. Wieso nicht. Es soll unbedingt jeder die freie Wahl haben, das tun zu können, was er will. Ich befürworte zum Beispiel nicht, dass ein Staat oder eine Gesellschaft alles reguliert. Dass man etwa eine Krawatte anziehen muss. (Er wird lauter) Es soll doch jeder anziehen, was er will! Nun ja, vielleicht bin ich ein wenig Anarchist.

Zurück zur Demokratie: Was hat Ihre Regierung zu machen verpasst?
Wir haben etwa die Bildung vernachlässigt. In die Infrastruktur hätten wir ebenso mehr investieren sollen. Die Wirtschaft Uruguays ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen, aber nicht so die Infrastruktur. Weiter hätten wir unbedingt ernsthaft eine Verfassungsreform anstreben sollen, um andere tiefgreifende Veränderungen in Uruguay herbeiführen zu können. Das Justizsystem ist veraltet und repräsentiert die Bedürfnisse der dominierenden Klasse.

Sie haben den Handel von Marihuana legalisiert. Das hat weltweit Schlagzeilen gemacht.
Ja, wir wollen den Handel und den Anbau von Marihuana kontrollieren. Das soll aber kein Hippie-Liberalismus werden. Es hat also überhaupt nichts mit dieser Rauchermentalität „Freies Marihuana!“ zu tun. Wir verteidigen das Marihuana als Allheilmittel nicht. Es geht um eine Maßnahme gegen den Drogenhandel. Wir wollen der Drogenmafia den Markt strittig machen. Abgesehen davon: Wir verteufeln eine Pflanze, deren Faser für die Produktion etwa von Textilien großartig ist.

Und wie stelle ich mir den legalen Anbau vor?
Der Staat stellt Land zur Verfügung. Auf diesem Stück Land können Leute, die sich registriert haben, Marihuana anpflanzen. Wir wollen keinen freien Anbau. Ich glaube nicht daran, dass es vorteilhaft ist, eine Abhängigkeit zu fördern. Das würde ja etwa dasselbe bedeuten, wie wenn ich sagen würde, der Tabak ist eine gute Sache, der Alkohol ist eine gute Sache. Nein, nein, nein, stopp mal!

Apropos Allheilmittel und Verteufeln: Uruguay hat die Trennung von Kirche und Staat bereits 1918 umgesetzt.
Genau. Hier finden Sie sich im laizistischsten Staat von Lateinamerika. Ich kann nur sagen: Ein laizistisches Land, das ist ein Segen (lacht). Es hat uns vor dem religiösen Fanatismus bewahrt, der wie jeder Fanatismus unheilvoll ist. Das Leben ist ein Tal der Tränen, um dann ins Paradies zu kommen – was soll denn das! Dieser Mist! Das einzige Paradies ist dieses hier, das Leben jetzt. Da war die Religion der Griechen sympathischer, mit streitenden und eifersüchtigen Göttern, die waren irgendwie menschlich.

Uruguay fiel Anfang des letzten Jahrhunderts ohnehin durch seine Fortschrittlichkeit auf. Nicht nur Laizismus, auch Scheidungsrecht, Arbeitsrecht, Bildung für jeden, Frauenstimmrecht, Altersrente wurden eingeführt.
Die Sozialdemokratie wurde in Uruguay begründet. Aber weil wir ein kleines Land sind, klitzeklein, hatte es keine Auswirkung auf die Welt. Wären wir ein Land von 50 Millionen Einwohnern, würde man heute sagen: Seht, dort wurde die Sozialdemokratie erfunden!

Uruguay wird bis heute die Schweiz Südamerikas genannt.
Eben, unter anderem wegen dieser Errungenschaften. Es gibt außerdem etwas Konkretes: Als die erste Amtszeit des Präsidenten José Batlle y Ordoñez zu Ende ging, machte er eine Reise durch Europa. Dabei besuchte er auch die Schweiz. Als er zurückkam, kämpfte er während seiner zweiten Präsidentschaft entschlossen dafür, dass in Uruguay eine Art Bundesrat eingeführt wurde. Und tatsächlich: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten wir zweimal eine kollegiale Exekutive nach Schweizer Vorbild – erst mit neun, dann mit fünf Mitgliedern.


Nun, Uruguay hatte auch weniger ruhmreiche Zeiten: Von 1973 bis 1985 herrschte eine Militärdiktatur. Sie wurden festgenommen und gefoltert. Sie haben mal gesagt: Ich saß 14 Jahre im Knast, aber ich hasse niemanden dafür. Wie geht das?
Ich hasse nicht. Wenn man verstanden hat, was Klassenkampf, was Gesellschaft in seinem Kern bedeutet, weiß man, dass die dreckige Arbeit, wenn sie nicht von diesem, dann von jenem verrichtet wurde. Die Wärter und Folterer waren genauso Produkt der Umstände. Klar, dann kommt noch der Sadismus-Anteil hinzu. Das ist individuell. Der eine Mensch ist mehr, der andere weniger sadistisch. Ich habe während meiner Gefangenschaft Soldaten kennen gelernt, die ihre Haut riskiert haben, um mir ein Gläschen Grappa oder einen Apfel zu bringen. Schwarz und Weiß – das existiert nicht. Dazwischen gibt es immer viele Grautöne.

Die letzten Jahre ihrer Gefangenschaft verbrachten Sie in Einzelhaft. In einem Erdloch. Was haben Sie gemacht, um nicht wahnsinnig zu werden?
Vielleicht ist es eine genetische Frage, oder auch nicht. Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich wieder frei komme und weiter politisiere. Dieses Wunschdenken hatte ich immer, und vielleicht hat es mir auch geholfen zu überleben. Ich war während meiner Gefangenschaft sechs Jahre ohne Bücher. Ich fing an, Dinge zu erfinden.

Was denn?
Ich erdachte Arbeitsgeräte für die Landwirtschaft. Ich berechnete sie, baute sie, diskutierte darüber. So vertrieb ich die Zeit. Außerdem ging ich einige Kilometer pro Tag zu Fuß.

Zu Fuß? Wie groß war denn das Erdloch?
Drei Schritte nach rechts, drei Schritte nach links. Drei Schritte nach rechts, drei Schritte nach links. Bis mir die Beine wehtaten.

Sie dachten wirklich nie, Sie könnten da sterben?
Nein, ich denke nicht an den Tod. Der Sensenmann hat schon einige Male mit mir geflirtet. Er wollte mich aber nicht.

Wie befreit man sich, von diesem Erlebten, das doch sehr traumatisch ist?
Ich bin mal dorthin zurückkehrt, wo man mich gefangen gehalten hat. Militärs haben mich hingeführt. Wir ließen uns gemeinsam fotografieren (lacht). Die Kerker sehen heute noch genau gleich aus wie früher. Ja, es mag schmerzhaft erscheinen, aber das Leben... das Leben ist wunderbar. Es macht keinen Sinn, die ganze Zeit über die Vergangenheit zu grübeln, die Wunden zu lecken. Das Leben ist die Zukunft. Von der Vergangenheit soll man lernen und nicht von ihr begraben werden.

Hegten Sie kein bisschen Rachegefühle, als sie frei kamen?
Im Gegenteil. In meiner ersten Rede kurz nach der Freilassung sprach ich bereits davon: Hass, nein! Denn Hass macht dich blind.

Letztes Jahr wurden Sie für den Friedensnobelpreis nominiert.
Ich sagte denen, sie würden spinnen. Überall auf der Welt tobten Kriege und man kam mir mit dem Friedensnobelpreis! Ich schlug ihnen vor, ihn post mortem Gandhi zu geben.

Wie fühlt sich das eigentlich an, wenn man weltweit zur Kultfigur erhoben wird?
(schmunzelt) Ich höre einen Tango... und von ihm lerne ich, dass der Ruhm nichts anderes als ein Märchen ist.

Im Ernst: Wie ist es?
Wenn dich der Ruhm als sehr jungen Menschen erwischt, ist es gefährlich.

Pepe, Ihre Amtszeit ist zu Ende. Sie sind bald 80 Jahre alt. Und jetzt?

Jetzt laufe ich aufs Grab zu. Natürlich mit ganz langsamen Schritten (lacht). Der Tod ist Teil des Lebens. Man kehrt zurück zur Quelle. Aber bis das eintrifft, werde ich weiter politisieren. Ich halte nichts von einem Leben als Rentner. Ich würde vor Traurigkeit in einer Ecke sterben.


Mujica wedelt oft mit seiner Baseball-Kappe.



Der Staatspräsident öffnet das Tor seiner Garage.



Er zeigt sein allerliebster VW-Käfer.

„Ich bin irr, aber nicht blöd“


Es ist wieder Samstag: Aus der Irrenanstalt in Buenos Aires wird gesendet.

„Wir waren Geistesgelähmte, nicht bereit für die irre Welt da draußen, für das internationale Irrenhaus“, ruft der bebrillte Hugo López ins Mikrofon. „Jetzt aber müssen wir beginnen, Politik zu machen: Stellt Euch als Abgeordnete und Senatoren auf!“ Einige nicken, andere sitzen lethargisch mit eingeknicktem Kopf im Kreis auf ihrem Stuhl. So auch der 33-jährige Federico López Bruno. Gerade eben hatte er noch eifrig mit sich selbst geredet, jetzt starrt er mit offenem Mund und weit aufgerissen Augen ins Nichts. Aus den Lautsprechern dröhnt ein eingespielter Satz: „Hallo Buenos Aires, hallo Argentinien, hallo Welt.“

Es ist Samstagnachmittag. Aus der psychiatrischen Klinik José T. Borda der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires wird live das Radioprogramm „La Colifata“ gesendet. Der Name ist nicht von ungefähr gewählt, das spanische Wort „colifata“ bedeutet liebevoll gesagt „durchgeknallt“. Patienten oder ehemalige Patienten sind hier die Radiomacher. Und nicht nur liebevoll, sondern auch stolz hört man sie während der fünfstündigen Sendung immer wieder mal Sätze sagen wie „Soy un loco – ich bin ein Irrer“ oder „Ich bin irre, aber nicht blöd“. Sie wissen, wo sie sind und wieso sie hier sind, und das ist völlig in Ordnung. Im Borda werden ausschliesslich Männer hospitalisiert, viele von ihnen sind schizophren oder manisch depressiv.
Neu dabei: Federico López Bruno sieht sich alles erst mal an.

Federico erwacht aus der Starre und verlangt nach dem Mikrofon. Er stellt sich vor. „Danke, dass ich hier sein darf.“ Heute ist es sein „erstes Mal“ bei der Colifata. Federico ist kein Borda-Patient, sein Psychiater hat ihm den Sender empfohlen. Federico erzählt seiner Hörerschaft, wieso Matetrinken intellektuell und der argentinische Cowboy – der Gaucho – ein Denker ist. Er erklärt, warum psychotische Menschen so viele Zigaretten rauchen. „Wir rauchen impulsiv, damit wir die Psychose ertragen können“, so der junge Argentinier. Nachdem er das Mikrofon wieder abgibt, stellt er rasch klar, dass er nicht psychotisch sei, sondern einfach immer wieder an seine Grenzen komme. Dann springt er auf und geht eine Zigarette suchen. Er raucht fünf Päckchen pro Tag.

Seit über zwanzig Jahren versammeln sich jeden Samstag die „locos“ in der Parkanlage des Psychiatriespitals – unter Bäumen, die Schatten werfen und wo Vögel zwitschern. Für einen Moment verlassen die Insassen die riesigen, grauen Zementblöcke des Borda, die auch innen trist und desolat sind. Aus den Lautsprechern hört man jetzt Reggae-Musik. Einige Patienten wippen auf ihren Stühlen hin und her. Vorne am Tisch, wo ein kleines Mischpult und ein paar Laptops stehen, sitzt und koordiniert der Psychologe und Colifata-Gründer Alfredo Olivera.

 „Es war der Versuch eine kommunikative Brücke zwischen den Internierten und dem Resten der Gesellschaft zu bauen“, so Olivera. „Die Menschen in der Psychiatrie sind nebst mit ihrer Krankheit noch mit einem viel schlimmeren Übel konfrontiert: der sozialen Ausgrenzung.“ Das Radio habe 1991 ohne politische, finanzielle und technische Unterstützung begonnen. Bereits nach einer kurzen Weile habe man bei den Patienten, die an der wöchentlichen Sendung beiwohnten, positive Veränderungen festgestellt. „Aufgrund Zuhörer-Reaktionen merkten die Internierten, dass das, was sie sagten, auf der anderen Seite der Mauer auch angehört wird“, erinnert sich Olivera. Heute wird der weltweit erste über Internet verbreitere Sender aus einer psychiatrischen Anstalt von zahlreichen argentinischen Rundfunkanstalten übermittelt und in Kliniken in Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland nachgeahmt.

Manchmal verlassen einige Radioteilnehmer die getraute Runde und verschwinden in die grauen Blocks der Klinik. Andere Patienten dagegen kommen daher geschlurft, gesellen sich neu dazu. Zum Teil sind sie sehr eigensinnig gekleidet: mit Wollkappen, obwohl Sommer ist, oder in Hosen, die beinahe herunterfallen. Hugo teilt über Mikrofon mit, er habe sich für den Friedensnobelpreis präsentiert. Später greift er nach der Gitarre, spielt und singt. Sein Nachbar steht auf und tanzt.

Hugo ist ein Urgestein bei der Colifata. Der 77-Jährige wurde vor über zwanzig Jahren für nur kurze Zeit ins Borda eingeliefert. „Was ich hatte, konnte mir nicht einmal der Psychiater sagen.“ Ihm haben letztendlich die Medikamente, Familie und Freunde – und die Colifata! – geholfen, um wieder gesund zu werden. Heute lebt er nicht mehr im Borda, besucht aber seit zehn Jahren jeden Samstag die Sendung. Hugo ist bis über die Landesgrenzen bekannt: Er stand mit Manu Chao auf der Bühne. Der spanisch-französische Sänger hatte mit den Borda-Insassen eine CD aufgenommen. Auch der weltberühmte US-Filmregisseur Francis Ford Coppola war von den Radiomachern gerührt, er liess 2009 die Colifata-Truppe in seinem Film „Tetro“ auftreten.

Das Mikrofon macht weiterhin die Runde. Bei „Radio la Colifata“ kommen Philosophen, Krieger des Lichts und Engel zu Wort. Einer der Patienten stellt sich als der Polizeikommissar der Provinz Buenos Aires vor. Über eine Stunde wird über Arbeit geredet und gestritten. Danach tragen Patienten selbst geschriebene Gedichte vor und schicken die ersten Neujahrsgrüsse in die Welt hinaus. Für Federico war dieser Samstagnachmittag „sehr bewegend“. Er werde ganz bestimmt wieder kommen. Er habe sich wunderbar amüsiert, denn: „So viele Irre an einem Ort potenzieren sich.“ (Camilla Landbø)

Sendung am Samstag von 14.30 bis 19.30 Uhr: www.lacolifata.org



Donnerstag, 10. November 2011

Eine Jungfrau die Pech bringt

Als sie noch im Fußballstadion stand: die Jungfrau Guadalupe.

Die 2,5 Meter hohe Statue ragte mitten im Fußballstadion in die Höhe. Beschützend schaute die Jungfrau Guadalupe auf das Feld und die Spieler des argentinischen Erstliga-Fußballclubs Colón. Doch der Club in der von Buenos Aires nördlich liegenden Provinz Santa Fe verlor seit Längerem ein Spiel nach dem anderen. Eines Tages fand man den Sockel, auf welchem die Statue gestanden hatte, leer. Über Nacht war Guadalupe vergangenen September verschwunden und niemand wusste wohin.

Die Argentinier singen, tanzen und schreien, bis die Stimme versagt. Sie leiden und feiern für ihren Fußballclub. Er ist mehr als nur ein Fußballclub, er ist Leidenschaft, Liebe, Leben. Wenn Argentiniens Nationalmannschaft an der Weltmeisterschaft ein Tor schießt, bebt Buenos Aires. Aus allen Häusern hört man Schreie, Gejauchze, Jubel. Wenn dagegen die Mannschaft ein Tor kassiert oder das Spiel verliert, ist plötzlich Totenstille in der argentinischen Hauptstadt. Eine bedrückende Stille - als ob jemand Bedeutendes gestorben, etwas Schlimmes passiert wäre. Für viele Argentinier ist der Fußball auch mehr als Leidenschaft und Liebe. Etwas Göttliches. Ja, etwas Übersinnliches. So wundert es nicht, dass Fußball und Aberglaube im südamerikanischen Land oft Hand in Hand gehen.

Fans, Spieler und Mitglieder des Fußballclubs Colón verzweifelten schier. Sie waren sich sicher: Die Jungfrau Guadalupe ist „mufa“. So nennen die Argentinier Menschen, Tiere und Sachen, die angeblich das Pech anziehen. Eine Großzahl Argentinier glaubt zum Beispiel, dass ihr früherer Präsident Carlos Menem (1989-1999) „mufa“ ist. Weswegen viele nicht einmal seinen Nachnamen aussprechen, wenn sie von ihm reden – damit das Pech nicht auf sie übergeht. Gegen Menem wurden schon allerlei skurrile Mittel eingesetzt: Der ehemalige argentinische Nationaltrainer Carlos Bilardo zog sich als Pechschutz rote Unterhosen an, wenn er sich mit dem Ex-Staatschef traf.

In 30 Spielen hatte Colón 21 Niederlagen erlitten. Und dann verlor der Club obendrauf gegen seinen ärgsten Rivalen Unión, den zweiten Erstligaclub der Provinz Santa Fe. Das brachte das Fass zum Überlaufen: Die Spieler holten einen Hexer, damit er das Stadion von „bösen Geistern“ befreie. Der blinde Geisterbeschwörer soll auf dem Spielfeld herumgelaufen sein und plötzlich gefragt haben: „Gibt es hier eine Jungfrau?“ Damit sahen sich die Spieler definitiv darin bestätigt, was sie seit langer Zeit vermuteten: Die Jungfrau Guadalupe bringt Pech. Ein paar Tage später verschwand sie. Die katholische Kirche protestierte, die Jungfrau sei kein Amulett gewesen. Die Justiz öffnete eine Akte.

In einem Communiqué teilte der Club mit, die Jungfrau sei lediglich in Restauration. Als Colón trotz Aufforderungen seitens der Kirche und Justiz ihren genauen Aufenthaltsort nicht preisgab, nahm medial der Druck zu. Zur Beruhigung veröffentlichte der Club in einer lokalen Zeitung Mitte Oktober ein Foto mit dem Bildhauer und der nun restaurierten Jungfrau. Die Menschen fühlten sich betrogen, schnell erkannte man nämlich, dass dies nicht die Originalstatue war.

Schließlich meldete sich Ende Oktober der Mannschaftskapitän in einem Schreiben an die Justiz: Auf dem Weg zum Restaurator sei die Statue leider vom Kleinlaster gefallen und kaputt gegangen. Deswegen habe derselbe Skulpteur eine neue aus Stein gemeißelt. Mehrere Menschen aus der Nachbarschaft des blinden Hexers berichteten allerdings, gesehen zu haben, wie die Statue bei ihm zerstört worden sei.

Glaube, Aberglaube und Hexerei: Alltag in der Fußballwelt. Religiöse Abbilder und Statuen begleiten Spieler auf ihren Reisen, Trainer verspritzen Weihwasser oder machen Mannschaftsaufstellungen nach den Sternzeichen der Spieler. Als Coco Basile den argentinischen Fußballclub Vélez Sársfield trainierte, schickte er 1990 gleich drei Spieler zu Hexern. Mehrere Niederlagen hatten ihn dazu bewogen. In von Kerzen beleuchteten Zimmern mussten die Fußballprofis, wie später einer von ihnen berichtete, sich nackt auf einer Liege ausstrecken. Verkleidete Männer tanzten um sie herum und sangen „Ba-ba-ba.“ Später als Trainer des bekannten Fußballclubs Boca Juniors ließ er seinen Hilfstrainer in dessen Hosentasche auf Talk herumkneten, wenn ein Gegenspieler angriff. Standen hingegen seine Spieler vor dem Gegnertor, musste der Hilfstrainer Talk auf die Schulter von Basile schmieren, das sollte Glück bringen. Eine Reihe anderer seltsamer Rituale hielt er auch als Trainer der argentinischen Nationalmannschaft ab, die er von 1991 bis 1994 und von 2006 und 2008 betreute.

Die neue Statue sollte bald im Stadion aufgestellt werden. Die Fans und Spieler glauben nach wie vor, dass die erste Jungfrau eine „mufa“ war. Denn seit sie weggeschafft wurde, hat Colón ein Spiel gewonnen und zwei mit einem Unentschieden beendet. War an der Geschichte doch was dran? (Camilla Landbø)


Freitag, 4. November 2011

BMW muss Reis und Leder aus Argentinien exportieren

Die Regierung von Cristina Fernández de Kirchner zwingt BMW dazu, künftig argentinische Produkte zu exportieren. Sonst dürfte der Hersteller in dem Land keine Autos mehr verkaufen. Damit will Argentinien seine Handelsbilanz aufmöbeln. Luxushersteller, die ihre Produkte in Argentinien verkaufen wollen, sollen auch dort produzieren. Andernfalls müssen sie Waren vom selben Wert der Einfuhren wieder exportieren.
BMW will kein eigenes Werk in Argentinien aufbauen und hat sich deswegen den strengen Vorgaben der Regierung gebeugt. Das Münchner Unternehmen wird künftig für den Bezug seiner Modelle Leder ausführen. Weil damit immer noch nicht dieselbe Summe exportiert wird, wie eingeführt wurde, verschifft der Autokonzern ab 2010 zudem Reis. BMW ist nicht der einzige Konzern, der eingelenkt hat: Porsche etwa exportiert Wein, Hyundai Erdnüsse und Mitsubishi Mineralwasser.

Donnerstag, 27. Oktober 2011

Lebenslänglich für den „blonden Todesengel"

Marineoffizier Alfredo Astíz hört sich das Urteil an.


Mit steinernem Gesicht hört sich der graumelierte Mann auf der Anklagebank den Urteilsspruch an. „Lebenslänglich für Alfredo Astíz“, liest der zuständige Richter vor. Im Gerichtssaal in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires bricht am Mittwochabend Jubel aus. Draußen vor dem Gerichtsgebäude umarmen sich die Menschen, die zu hundert die Urteilsverkündung über eine Großleinwand verfolgt haben. Im Chor rufen sie: „Mörder, Mörder, Mörder.“

Insgesamt standen 18 ehemalige Militärs im Rahmen der Megaklage ESMA wegen ihrer Verbrechen während der letzten argentinischen Diktatur (1976-83) vor Gericht. 16 von ihnen erhielten wegen Entführung, Folter und Mord in 85 Fällen lebenslänglich oder Strafen zwischen 18 und 25 Jahren. Zwei wurden freigesprochen. Zu den Opfern der Angeklagten zählten die französischen Nonnen Alice Domon und Léonie Duquet sowie Gründungsmitglieder der Menschenrechtsorganisation Mütter der Plaza de Mayo. 22 Monate hat der Prozess gedauert, über 160 Zeugen wurden aufgerufen, darunter Überlebende des Geheimgefängnisses ESMA.

Im Jahr 1976 putschten die argentinischen Militärs die demokratisch eingesetzte Präsidentin Isabel Martínez de Perón. Daraufhin begann ein systematisches Ausschalten von mutmaßlichen Gegnern. Die Uniformierten verfolgten alles, was ihnen links erschien, um „Ordnung im Land“ zu schaffen. Sie entführten unter anderem Studenten, Lehrer, Sozialarbeiter, Intellektuelle, Geistliche und Künstler. Die Diktatur Argentiniens gilt als die grausamste innerhalb Südamerikas. Menschenrechtsorganisationen zufolge wurden 30.000 Menschen zum Verschwinden gebracht.

Die Militärs installierten ein paar Hundert Geheimgefängnisse im ganzen Land. Dorthin wurden die Regimegegner gebracht, nachdem sie oft in Nacht- und Nebelaktionen verhaftet worden waren. In den Geheimgefängnissen wurden sie unter menschenunwürdigen Bedingungen gehalten und gefoltert, später meist umgebracht. In der ESMA, dem Schulungszentrum der Marine in Buenos Aires, wurde eines der größten Zentren aufgebaut. Rund 5000 Personen wurden dort festgehalten, nur wenige überlebten. Von der ESMA aus starteten außerdem viele der berüchtigten „Flüge des Todes“. Die Militärs luden Regimegegner in Flugzeuge und warfen sie aus der Höhe in den Fluss Río de la Plata.

Der „blonde Todesengel“, wie der Marineoffizier Astíz in Argentinien genannt wird, war besonders hinterlistig und brutal. Mit seinen guten Umgangsformen, einer auffallenden Hilfsbereitschaft und einem engelhaften Aussehen wusste er sich den Zugang zu Menschen zu verschaffen. Hinter der Fassade des netten jungen Mann steckte ein Folterer und Mörder. Im Prozess berichteten Zeugen wie er Gefangene mit Elektroschocks und Schlägen quälte. Ein Überlebender beschrieb den heute 59 Jahre alten Astíz als ein kalter und berechnender Mensch, der ohne Schuldgefühle alle hätte töten können.

Kurz nach dem Putsch gab sich Astíz als Bruder eines verschwundenen Dissidenten aus, um die Mütter der Plaza de Mayo auszuspionieren. In einer Kirche in Buenos Aires trafen sich jeweils viele dieser Frauen, die nach ihren verschleppten Kindern suchten. Astíz verriet die Namen jener, die der Organisation angehörten oder sie unterstützten wie die französischen Nonnen. Im Dezember 1977 kam es zu Verhaftungen. Die Leiche der Nonne Duquet fand man später angeschwemmt am Meeresufer, südlich von Buenos Aires. In seiner Abwesenheit erhielt Astíz für die Nonnen-Morde in Frankreich 1990 lebenslänglich.

Der blonde Todesengel und andere Militärs wie Ex-Diktator Rafael Videla wurden bereits nach der Diktatur 1985 für Mord, Folter und Entführungen von einem argentinischen Gericht schuldig erklärt. Ende 80er Jahre jedoch amnestierte der damalige Präsident Carlos Saúl Menem die Verurteilten. Erst mit Amtsantritt von Néstor Kirchner (2003-2007) wurden Prozesse gegen Diktatur-Verbrecher wieder ins Auge gefasst. Der Staatschef forderte, dass die Amnestiegesetze aufgehoben würden. Dem stimmte 2005 das Oberste Gericht zu. Seither werden zahlreiche Verfahren gegen Ex-Militärs, Polizisten und ihre Handlanger geführt. (Camilla Landbø)