Als Guerillaführer verbrachte er 14 Jahre in Gefangenschaft. Die letzten davon alleine in einem Erdloch. 2010 wählten in die Uruguayer zum Präsidenten. José Mujica – genannt Pepe - ist international zur Polit-Kultfigur mutiert. Weil er anders ist. Zum letzten Interview vor Ende seiner Präsidentschaft empfing der frühere Blumenzüchter in Jogginghose und Baseball-Kappe bei sich zu Hause außerhalb von Montevideo.
Interview: Camilla Landbø (aufgezeichnet im Februar 2015)
Erst zur Förmlichkeit: Wie soll ich Sie nennen, Herr
Präsident oder…?
José Mujica: Pepe!
Pepe... was ist mit Ihrer Nase passiert?
Gestern habe ich mich hier auf dem Land mit einer Zange
verletzt, als ich versuchte einen Draht zu biegen (lacht).
Als Präsident?
Ich bin der Präsident der Republik, ja! Aber gestern fuhr
ich mit einem Traktor herum und schaufelte Erde von hier nach dort. Kehrte dann
schmutzig nach Hause, nahm ein Bad und putzte die blutende Nase. Das ist
menschliche Freiheit, dass man gelegentlich das tun kann, was einen glücklich
macht.
Seit etwa 30 Jahren leben Sie hier, auf Ihrem einfachen
Gut. Sie haben sich geweigert, in den Präsidentenpalast von Montevideo zu
ziehen.
Ich lebe nicht auf dem Land, weil ich ein Exzentriker bin.
Sondern weil ich die Natur über alles liebe. Ich kann nicht anders.
Pepe, in den 70er-Jahren kämpften Sie für politische,
wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Sofortige und definitive
Veränderungen. Sie waren Mitbegründer der Stadtguerilla Tupamaros.
Wir wollten eine perfekte Welt. Ja. Dann aber litten wir
ziemlich. Aus Mangel an Geschwindigkeit. Weil sie uns festnahmen (lacht).
Und so begannen wir den Wert des Lebens neu zu definieren. Es macht Sinn,
darum zu kämpfen, dass Menschen mehr zu Essen, ein Dach über dem Kopf, mehr
Gesundheit und bessere Bildung haben. Damit ihr Aufenthalt auf dem Planet
möglichst angenehm ist. Nichts ist schöner als das Leben. Das ist es, was wir
in jenen Jahren gelernt haben: Das wichtigste ist das Leben, gleich darauf
kommt die Gesellschaft. Der Mensch ist ein Herdentier, er braucht die
Gemeinschaft. Er ist anthropologisch gesehen Sozialist.
Ideen, Kampf, Gefangenschaft... viel Erlebtes. Jahre
danach werden Sie zum Präsidenten gewählt, stehen einem linken Bündnis – dem Frente
Amplio – vor. Wie geht man mit dieser Verantwortung um?
Dieses Erlebte ist der Grund, wieso wir nun bedächtig
vorwärts gehen. Aber mit Beharrlichkeit. Wir verhandeln so gut es geht, mit der
Absicht, dass die Gesellschaft ein bisschen gerechter wird. Wir versuchen
Veränderungen herbeizuführen, die relativ, langsam und nicht definitiv
sind. Denn das einzig Definitive ist der Tod.
Man könnte also sagen, dass Sie die Ideen von damals an
die Realität adaptiert haben?
Man adaptiert sich nie an die Realität – sie ist zu
komplex.
Während Ihrer fünfjährigen Amtszeit wurden die Homo-Ehe,
die Abtreibung, das Recht auf Geschlechtsidentität eingeführt. Sie haben
Arbeitslosigkeit, Armut und Kindersterblichkeit gesenkt. Um ein paar Sachen zu
nennen.
Ja. Die Linke scheint heute zu glauben, dass sie den Kampf
um die Macht mit einer sozialen Agenda ersetzen kann: Homo-Ehe, Abtreibung,
Antirassismus, Feminismus... Das ist alles sehr gut. Ich unterstütze das
natürlich. Aber der Schwarze, der wirklich beschissen dran ist, das ist der
Schwarze in Armut. Die Frau, die am meisten diskriminiert und gedemütigt wird,
das ist die Frau in Armut. Dasselbe gilt für die Indigenas. Unser großes
Problem also sind die Klassenunterschiede. Soll mir niemand etwas anderes
weismachen wollen! Kurzum: Man muss um die Macht kämpfen, um dann strukturelle
Veränderungen herbeizuführen.
Man nennt Sie oft „den ärmsten Präsidenten“.
Wegen meiner Art zu leben: bescheiden und mit wenig
Gepäck. Und das ganz bewusst. Das ist meine Wahl. Wofür? Um Freizeit zu haben.
Denn wenn ich Geld anhäufen würde, müsste ich dauernd aufpassen, dass man mich
nicht belästigt oder bestiehlt. Ich würde meine Zeit verschwenden. Und was man
im Supermarkt nicht kaufen kann, das ist Zeit. Jemand anderes mag daran Freude
haben, Geld anzuhäufen. Wieso nicht. Es soll unbedingt jeder die freie Wahl
haben, das tun zu können, was er will. Ich befürworte zum Beispiel nicht, dass
ein Staat oder eine Gesellschaft alles reguliert. Dass man etwa eine Krawatte
anziehen muss. (Er wird lauter) Es soll doch jeder anziehen, was er
will! Nun ja, vielleicht bin ich ein wenig Anarchist.
Zurück zur Demokratie: Was hat Ihre Regierung zu machen
verpasst?
Wir haben etwa die Bildung vernachlässigt. In die
Infrastruktur hätten wir ebenso mehr investieren sollen. Die Wirtschaft
Uruguays ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen, aber nicht so die
Infrastruktur. Weiter hätten wir unbedingt ernsthaft eine Verfassungsreform
anstreben sollen, um andere tiefgreifende Veränderungen in Uruguay herbeiführen
zu können. Das Justizsystem ist veraltet und repräsentiert die Bedürfnisse der
dominierenden Klasse.
Sie haben den Handel von Marihuana legalisiert. Das hat
weltweit Schlagzeilen gemacht.
Ja, wir wollen den Handel und den Anbau von Marihuana
kontrollieren. Das soll aber kein Hippie-Liberalismus werden. Es hat also
überhaupt nichts mit dieser Rauchermentalität „Freies Marihuana!“ zu tun. Wir
verteidigen das Marihuana als Allheilmittel nicht. Es geht um eine Maßnahme
gegen den Drogenhandel. Wir wollen der Drogenmafia den Markt strittig machen.
Abgesehen davon: Wir verteufeln eine Pflanze, deren Faser für die Produktion
etwa von Textilien großartig ist.
Und wie stelle ich mir den legalen Anbau vor?
Der Staat stellt Land zur Verfügung. Auf diesem Stück Land
können Leute, die sich registriert haben, Marihuana anpflanzen. Wir wollen
keinen freien Anbau. Ich glaube nicht daran, dass es vorteilhaft ist, eine
Abhängigkeit zu fördern. Das würde ja etwa dasselbe bedeuten, wie wenn ich
sagen würde, der Tabak ist eine gute Sache, der Alkohol ist eine gute Sache.
Nein, nein, nein, stopp mal!
Apropos Allheilmittel und Verteufeln: Uruguay hat die
Trennung von Kirche und Staat bereits 1918 umgesetzt.
Genau. Hier finden Sie sich im laizistischsten
Staat von Lateinamerika. Ich kann nur sagen: Ein laizistisches Land, das ist
ein Segen (lacht). Es hat uns vor dem religiösen Fanatismus bewahrt, der
wie jeder Fanatismus unheilvoll ist. Das Leben ist ein Tal der Tränen, um
dann ins Paradies zu kommen – was soll denn das! Dieser Mist! Das einzige
Paradies ist dieses hier, das Leben jetzt. Da war die Religion der Griechen
sympathischer, mit streitenden und eifersüchtigen Göttern, die waren irgendwie
menschlich.
Uruguay fiel Anfang des letzten Jahrhunderts ohnehin durch
seine Fortschrittlichkeit auf. Nicht nur Laizismus, auch Scheidungsrecht,
Arbeitsrecht, Bildung für jeden, Frauenstimmrecht, Altersrente wurden
eingeführt.
Die Sozialdemokratie wurde in Uruguay begründet. Aber weil
wir ein kleines Land sind, klitzeklein, hatte es keine Auswirkung auf die Welt.
Wären wir ein Land von 50 Millionen Einwohnern, würde man heute sagen: Seht,
dort wurde die Sozialdemokratie erfunden!
Uruguay wird bis heute die Schweiz Südamerikas genannt.
Eben, unter anderem wegen dieser Errungenschaften. Es gibt
außerdem etwas Konkretes: Als die erste Amtszeit des Präsidenten José Batlle y
Ordoñez zu Ende ging, machte er eine Reise durch Europa. Dabei besuchte er auch
die Schweiz. Als er zurückkam, kämpfte er während seiner zweiten
Präsidentschaft entschlossen dafür, dass in Uruguay eine Art Bundesrat
eingeführt wurde. Und tatsächlich: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
hatten wir zweimal eine kollegiale Exekutive nach Schweizer Vorbild – erst mit
neun, dann mit fünf Mitgliedern.
Nun, Uruguay hatte auch weniger ruhmreiche Zeiten: Von
1973 bis 1985 herrschte eine Militärdiktatur. Sie wurden festgenommen und
gefoltert. Sie haben mal gesagt: Ich saß 14 Jahre im Knast, aber ich hasse
niemanden dafür. Wie geht das?
Ich hasse nicht. Wenn man verstanden hat, was
Klassenkampf, was Gesellschaft in seinem Kern bedeutet, weiß man, dass die
dreckige Arbeit, wenn sie nicht von diesem, dann von jenem verrichtet wurde.
Die Wärter und Folterer waren genauso Produkt der Umstände. Klar, dann kommt
noch der Sadismus-Anteil hinzu. Das ist individuell. Der eine Mensch ist mehr,
der andere weniger sadistisch. Ich habe während meiner Gefangenschaft Soldaten
kennen gelernt, die ihre Haut riskiert haben, um mir ein Gläschen Grappa oder
einen Apfel zu bringen. Schwarz und Weiß – das existiert nicht. Dazwischen gibt
es immer viele Grautöne.
Die letzten Jahre ihrer Gefangenschaft verbrachten Sie in
Einzelhaft. In einem Erdloch. Was haben Sie gemacht, um nicht wahnsinnig zu
werden?
Vielleicht ist es eine genetische Frage, oder auch nicht.
Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich wieder frei komme und weiter
politisiere. Dieses Wunschdenken hatte ich immer, und vielleicht hat es mir
auch geholfen zu überleben. Ich war während meiner Gefangenschaft sechs Jahre
ohne Bücher. Ich fing an, Dinge zu erfinden.
Was denn?
Ich erdachte Arbeitsgeräte für die Landwirtschaft. Ich
berechnete sie, baute sie, diskutierte darüber. So vertrieb ich die Zeit.
Außerdem ging ich einige Kilometer pro Tag zu Fuß.
Zu Fuß? Wie groß war denn das Erdloch?
Drei Schritte nach rechts, drei Schritte nach links. Drei
Schritte nach rechts, drei Schritte nach links. Bis mir die Beine wehtaten.
Sie dachten wirklich nie, Sie könnten da sterben?
Nein, ich denke nicht an den Tod. Der Sensenmann hat schon
einige Male mit mir geflirtet. Er wollte mich aber nicht.
Wie befreit man sich, von diesem Erlebten, das doch sehr
traumatisch ist?
Ich bin mal dorthin zurückkehrt, wo man mich gefangen
gehalten hat. Militärs haben mich hingeführt. Wir ließen uns gemeinsam
fotografieren (lacht). Die Kerker sehen heute noch genau gleich aus wie
früher. Ja, es mag schmerzhaft erscheinen, aber das Leben... das Leben ist
wunderbar. Es macht keinen Sinn, die ganze Zeit über die Vergangenheit zu
grübeln, die Wunden zu lecken. Das Leben ist die Zukunft. Von der Vergangenheit
soll man lernen und nicht von ihr begraben werden.
Hegten Sie kein bisschen Rachegefühle, als sie frei kamen?
Im Gegenteil. In meiner ersten Rede kurz nach der
Freilassung sprach ich bereits davon: Hass, nein! Denn Hass macht dich
blind.
Letztes Jahr wurden Sie für den Friedensnobelpreis
nominiert.
Ich sagte denen, sie würden spinnen. Überall auf der Welt
tobten Kriege und man kam mir mit dem Friedensnobelpreis! Ich schlug ihnen vor,
ihn post mortem Gandhi zu geben.
Wie fühlt sich das eigentlich an, wenn man weltweit zur
Kultfigur erhoben wird?
(schmunzelt) Ich höre einen Tango... und von ihm
lerne ich, dass der Ruhm nichts anderes als ein Märchen ist.
Im Ernst: Wie ist es?
Wenn dich der Ruhm als sehr jungen Menschen erwischt, ist
es gefährlich.
Pepe, Ihre Amtszeit ist zu Ende. Sie sind bald 80 Jahre
alt. Und jetzt?
Jetzt laufe ich aufs Grab zu. Natürlich mit ganz langsamen
Schritten (lacht). Der Tod ist Teil des Lebens. Man kehrt zurück
zur Quelle. Aber bis das eintrifft, werde ich weiter politisieren. Ich halte
nichts von einem Leben als Rentner. Ich würde vor Traurigkeit in einer Ecke
sterben.
Mujica wedelt oft mit seiner Baseball-Kappe. |
Der Staatspräsident öffnet das Tor seiner Garage. |
Er zeigt sein allerliebster VW-Käfer. |